Der Sachverständige im Strafprozess

Der Sachverständige ist aus einem Strafprozess mittlerweile wohl oder übel nicht mehr wegzudenken. Er wird beauftragt, wenn es um die psychische Verfassung des Angeklagten, um die Rekonstruktion eines Unfalls oder um die Ordnungsgemäßheit einer Geschwindigkeitsmessung geht. Der folgende Beitrag befasst sich mit der Rolle und Funktion des Sachverständigen im Strafprozess und widmet sich auch der Frage, ob die Vielzahl der Beauftragungen von Sachverständigen und die damit verbundenen Kosten noch gerechtfertigt sind und wie viel Einfluss der Sachverständige mittlerweile auf die Entscheidungen von Richtern hat. Außerdem gibt der Beitrag ein Einblick in die Praxis eines Strafverteidigers und hinterfragt, warum sich die Justiz selbst mehr Arbeit macht als sie bewältigen kann.

Der Sachverständige als Beweisperson

Abzugrenzen ist der Sachverständige von einem Zeugen und einem sachverständigen Zeugen. Die Unterscheidung soll an dieser Stelle jedoch keine weitere Erläuterung finden. Der Sachverständige ist eine Person, die aufgrund ihrer besonderen Qualifikation über Tatsachen Auskunft geben kann, welche ohne die jeweilige Qualifikation von „normalen“ Zeugen und auch vom Gericht nicht festgestellt werden können. Ein gutes Beispiel ist der Sachverständige für Unfallrekonstruktionsgutachten, der aufgrund verschiedenster Parameter in einem Gutachten nachvollziehbar darstellt, wie sich ein bestimmter Unfall mit hoher Wahrscheinlichkeit ereignet hat.

Welche Rechte und Pflichten der Sachverständige in einem Strafprozess hat und welche prozessualen Besonderheiten es zu beachten gilt, findet sich in den §§ 72 ff. StPO, wobei über die Vorschrift des § 72 StPO auch die Vorschriften für Zeugen in einem Strafverfahren gemäß §§ 48 ff. StPO zur Anwendung gelangen.

Wann wird der Sachverständige bestellt

Der Sachverständige wird vom Gericht bestellt, wenn das Gericht die erforderliche Sachkunde zur Erforschung bestimmter Tatsachen nicht besitzt oder meint, diese nicht zu besitzen. Strafverteidiger und Staatsanwaltschaft können einen Antrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens stellen. Es liegt im Ermessen des Gerichts, ob ein Sachverständiger bestellt wird. Diesem Ermessen wohnt naturgemäß ein großer Spielraum inne. So wird ein Richter oder eine Richterin, der/die selbst gerne an Fahrzeugen „schraubt“, eher in der Lage sein, nachvollziehen zu können, ob ein bestimmter Mangel an einem Fahrzeug üblich oder doch eher unüblich ist. Ein ortskundiger Richter wird wissen, ob die Kurve an einer bestimmten Stelle einer Straße eher „offen“ oder eher  „geschlossen“ ist und ob diese Kurve leichter oder schwieriger zu durchfahren ist.

Wurde der Sachverständige bestellt, so ist dieser verpflichtet, seine Erkenntnisse in einem Gutachten niederzuschreiben, § 75 StPO. Die Auswahl des Sachverständigen trifft gemäß § 73 StPO grundsätzlich der Richter.

Selbstverständlich ist das Gericht gehalten – und ein guter Strafverteidiger wird darauf auch hinwirken (!) – dass ein Sachverständiger beauftragt wird, der für das Verfahren oder das Beweisthema aufgrund seiner Kenntnisse geeignet ist, ein fundiertes Gutachten zu erstellen. Es ist darauf zu achten, dass ein Sachverständiger nicht nur deshalb bestellt wird, weil er dem Gericht bekannt ist und immer bestellt wird. Der Sachverständige muss unabhängig und mit der notwendigen Sachkenntnis sein Gutachten erstellen.

Ein Beispiel aus der Praxis

In einem von mir geführten Strafprozess kam es dazu, dass ein Sachverständiger bestellt wurde, welcher ein Unfallrekonstruktionsgutachten erstellen sollte. Der Sachverständige sollte prüfen, wie sich ein Verkehrsunfall ereignet hat und ob einer der Verkehrsteilnehmer mit zu hoher Geschwindigkeit gefahren ist. Das Gericht sah sich nicht in der Lage, selbstständig zu entscheiden, obwohl dies nicht unmöglich gewesen wäre.

Der vom Gericht bestellte (erste) Sachverständige kam zu dem Ergebnis, dass der Unfall durch den Beschuldigten verursacht wurde, übersah dabei jedoch eklatant wichtige Tatsachen. Das (erste) Gutachten wurde aufgrund der vorgebrachten Einwände der Verteidigung im späteren Berufungsverfahren nicht einmal mehr verlesen, der Sachverständige wurde nicht einmal mehr gehört.

Das (zweite) Gutachten, welches durch die Verteidigung beauftragt wurde, kam zu dem Ergebnis, dass der Unfall keinesfalls von dem Beschuldigten verursacht wurde.

Das (dritte) Gutachten, welches durch das Berufungsgericht beauftragt wurde, kam dann wiederum zu dem Ergebnis, dass der Unfall doch durch den Beschuldigten verursacht wurde. Allerdings wies das dritte Gutachten einen völlig anders verlaufenden Unfallhergang auf als das erste Gutachten, kam nur zu dem gleichen Ergebnis.

Wenn drei verschiedene Gutachten für ein und denselben Unfallhergang zu drei völlig unterschiedlich verlaufenden Sachverhalten gelangen, ist es dann überhaupt noch möglich, den Unfall zu rekonstruieren? Deshalb hätte das Gericht den Beschuldigten nach dem Grundsatz "in dubio pro reo" freisprechen müssen. Der Prozess endete dann letztlich - wie häufig - mit der Einstellung des Verfahrens. Das Gericht wollte nicht auf einen Freispruch erkennen, für den Beschuldigten war die Fortführung des seit Jahren andauernden Verfahrens unzumutbar.

Im Ergebnis steht aber fest, dass die Beschäftigung von drei Sachverständigen und die Einholung von drei Gutachten nicht wirklich zur Entscheidungsfindung des Gerichts beigetragen hat. Es scheint doch manchmal mehr oder weniger Glück oder Pech zu sein, zu welchem Ergebnis der Sachverständige gelangt. Dieses „Glück oder Pech“ kann auch durch die Verteidigung nicht unerheblich beeinflusst werden. Unter Anderem ist es möglich, den Sachverständigen aufgrund der Besorgnis der Befangenheit abzulehnen, § 74 StPO.

Spezialfall: Der „psychologische“ Sachverständige

Bei der Einholung psychologischer Gutachten geht es darum, in den Kopf und in die Seele eines Menschen zu sehen und den Menschen dann gemäß einem zweifelhaften Klassifikationssystems namens ICD 10 einzuschätzen.

In der Praxis machen es sich die Gerichte oft zu einfach. Ein forensischer Sachverständiger wird der Begutachtung beauftragt. In der Urteilsbegründung stützt sich die Beurteilung dann nur auf die Einschätzung des Sachverständigen, der das Gericht folgt, weil der Sachverständige eine „Koryphäe“ sei. Im Fall Mollath gab es auch mehrere „Koryphäen“. Aufgrund der Einschätzung der Sachverständigen wurde Herr Mollath vom Gericht über sieben Jahre in einer Psychiatrie untergebracht. Nur aufgrund seines engagierten Verteidigers hatte es Herr Mollath letztlich zu verdanken, dass ein Wiederaufnahmeverfahren erfolgte und er wieder auf freien Fuß kam. Das Buch des Kollegen Gerhard Strate „Der Fall Mollath: Vom Versagen der Justiz und Psychiatrie“ ist sehr zu empfehlen.

Fazit

Auch wenn die Gerichte überfordert sind, sollte sich jeder Richter immer wieder vergegenwärtigen, dass es bei strafgerichtlichen Entscheidungen um die Existenz eines Menschen gehen kann. Die "blinde" Übernahme sachverständiger Gutachten entspricht nicht einem ordentlichen Strafprozess.
Die Entscheidung hat der Richter zu treffen, der aufgrund seiner Unabhängigkeit auch dazu gezwungen ist, Sachverständigengutachten eigenständig zu prüfen, selbst wenn dies oftmals einen enormen Zeitaufwand erfordert. Zudem sollte jeder Richter selbstbewusst genug sein, ein Urteil auch zu fällen, ohne sich dabei stets Rückendeckung von Sachverständigen zu holen.
Der Richter hat zu entscheiden, nicht der Sachverständige.